Chanting chanting chanting

Mein Wecker klingelt um 5, ich prüfe meine körperlichen Funktionen und stelle fest, dass mir immer noch alles weh tut. Wirklich überraschen tut mich das nicht, ich gewöhne mich daran, dass mein gesamter Körper kurz vor dem Totalausfall zu stehen scheint und wundere mich nur noch darüber, dass ich trotz all der Schmerzen jeden Tag aufs Neue um 6 Uhr Asanas stehe, die ich noch niemals in meinem Leben vorher gesehen, geschweige denn gemacht habe. Manchmal verdreht mein Lehrer mich derart, dass ich selbst nicht sagen könnte, wo meine rechten und wo meine linken Gliedmassen sind.

Jede Lektion beginnt mit einem gesungenem Anfangsgebet, jede Runde Sonnengruss beginnt mit einem gesungenen Vers, und nach getaner Asana-Arbeit bedanken wir uns mit einem gesungenen Gebet. Das Singen ist hier ein fester Bestandteil jeder Lektion, wir bedanken uns damit bei der lehrenden Person, beim Universum, bei der Sonne und Energien.

Unsere Pranayama Lehrerin erklärt uns den Sinn hinter den Gesängen: Die Laute, die wir singen, erzeugen bestimmte Frequenzen und Vibrationen, die unseren Körper durchdringen und laut indischer Philosophie bestimmte Chakren zum Schwingen bringen. So, wie Wellen sich im Wasser ausbreiten, breiten sich die Schallwellen von unseren Stimmbändern aus in alle Richtungen aus und durchdringen Alles und Jeden. Das dreifache Ohm zu Beginn jeder Lektion, von allen gemeinsam gesungen, reinigt unter Anderem den Raum von negativen Energien und bereitet den Raum energetisch auf die spirituelle Arbeit vor. AUM aktiviert ausserdem den Bauchraum, das Dritte Auge, und den gesamten Körper und Geist.

Das gemeinsame Singen verbindet aber auch: Wir atmen die gleiche Luft ein, teilen die gleichen Worte und kreieren durch das Singen ein Gemeinschaftsgefühl: Obwohl wir alle für uns alleine, unserem individuellen Können angepasst, arbeiten, sind wir eine Einheit. So wird keiner ausgeschlossen, alle gehören dazu. Manche Inder in meinem Shala verstehen und sprechen kein Englisch, aber das Singen und die Asanas verbinden uns und wir verstehen uns wortlos.   

Natürlich wird in Sanskrit gesungen, und während die Inder Sanskrit alle in irgend einer Weise kennen (jede indische Sprache hat ihren Ursprung mehr oder weniger im Sanskrit und verwendet noch Wörter im Alltag), sind die Worte für mich leere Hülsen und Laute, die irgendwie gelernt werden wollen. Anfänglich, in den ersten drei Stunden, versuche ich einfach die Sätze nachzusingen. Nach der dritten Stunde fange ich an, langsam die Töne zu erkennen und ich fühle mich zunehmend sicherer. Langsam fange ich an, die Verse auswendig zu lernen und kann schon ganz gut mitsingen. Trotzdem bin ich mir dessen bewusst, dass meine Aussprache nicht korrekt ist, was mich etwas beschämt, denn für Inder sind die Mantra und Gebete in Sanskrit sehr wichtig, und diese falsch auszusprechen ist Frevel, das macht mir eine meiner Mityoginis freundlich, aber deutlich klar.

Also bemühe ich mich und bekomme Sprachunterricht. Es ist schwieriger, als ich dachte, die Laute auszusprechen. Meine Mitschülerin erklärt mir dass ich zB nicht einfach „Raam“ singen darf, sondern vor dem „r“ ein „H“ hauchen muss (was für mich garnicht so einfach ist, und ich höre nebenbei auch keinen wirklichen Unterschied von „hraam“ zum einfachen „raam“). Sie ist sichtlich mit vollem Herzen dabei und lässt mich eine Stunde lang die Worte der wichtigsten Verse wiederholen. Ich finde es total lieb von ihr, aber in Wahrheit bin ich nach der Lektion mehr Verunsichert, als vorher. Hab ich bisher gedacht, ich muss einfach die Verse auswendig lernen, was an sich schon eine Herausforderung gewesen wäre, habe ich jetzt auch noch Angst, durch die falsche Aussprache negativ aufzufallen.    

Dabei sind die Verse, die zum Sonnengruss gehören, sehr wichtig und wunderschön:

Jedes einzelne der „bija Mantra“ hat eine eigene aktivierende Funktion.

„h“ aktiviert z.B. das Herz, „r“ aktiviert das Gehirn, das lange „a“ wirkt auf Gehirn, Herz und Atmungsorgane, das lange „e“ wirkt auf die stimmbildenden Organe sowie auf die Nase, das lange „u“ wirkt auf die Verdauungsorgane, „ai“ wirkt auf die Nieren, „ou“ stärkt die Ausscheidungsorgane, und so weiter.

Zusammen mit den 12 Asanas, die zum Sonnengruss gehören, und der korrekten Atmung (die übrigens etwas anders ist, als ich sie in Deutschland gelernt habe) wirkt der Sonnengruss aktivierend, heilend und balancierend auf den Körper und bildet den unverzichtbaren Anfang jeder Asana-Lektion.

Und dann passiert mein persönlicher Alptraum: Ich bin mit meinem Lehrer alleine in der Lektion, er setzt sich in Position und beginnt zu singen. Die drei Ohms singen wir gemeinsam, und es hört sich überwältigend an – das habe ich mir schon so manches mal gedacht, wenn wir in der Gruppe Ohren ist es jedesmal ein göttliches Erlebnis. Es hat etwas andächtiges, kraftvolles und mysteriöses, wenn Menschen diesen Laut miteinander singen. Und ich wundere mich jedesmal, wie Menschen völlig verschiedener Herkunft, verschiednen Alters, Geschlechts und Hautfarbe miteinander in Resonanz gehen, und ihre Tonhöhe einfach irgendwie perfekt zueinander passt, ohne dass sie sich abgesprochen haben.

Dann stehen wir auf und stellen uns für den Sonnengruss bereit. In Bruchteilen einer Sekunde reagiere ich, mir fällt siedend heiss auf dass ich alleine bin und hoffe, er singt MIT mir. Aber er zieht seine Linie durch und singt vor, und ich singe reflexartig nach. Ich bin überrascht: es hört sich eigentlich ganz schön an, und mein Lehrer lässt sich auch nichts anmerken, als ich mich mal bei dem einen oder anderen Wort „versinge“ und Buchstaben verdrehe. Mit jedem Vers fühle ich mich sicherer und kann die Worte kraftvoller singen, der Ton wird klarer und voller.

Fast bin ich etwas enttäuscht, als eine weitere Schülerin in den Raum kommt und mit einstimmt. Aber als ich bemerke, dass meine indische Mit-Yogini selbst sehr unsicher singt, bin ich nicht nur ein wenig stolz auf mich, diese Hürde genommen und wieder ein Stückchen gewachsen zu sein.

Am nächsten Tag darf ich dann tatsächlich den Sonnengruss leiten, dass heisst, ich darf vorsingen, und alle anderen der Fortgeschrittenengruppe folgen meiner Melodie… was soll ich sagen? Es ist sicher nicht leicht, meine angst in den Griff zu bekommen, damit die Stimme nicht zittert, aber es ist ein tolles Gefühl, die Scheu und die Angst abzulegen, und vor einer erfahrenen Gruppe zu singen! Ich mache zwar einen Patzer und vergesse eine Zeile, aber im Grossen und Ganzen schaffe ich es und bin super stolz auf mich!

Jetzt heisst es noch: Auswendig lernen und chanten chanten chanten, denn auch dies gehört am Ende der Ausbildung zur Abschlussprüfung. Allerdings weiss ich jetzt, dass ich das mit Leichtigkeit schaffen werde. 🙂