Ich war noch nie die, die gern Sehenswürdigkeiten besucht hat. Mich haben schon immer die Menschen fasziniert: Ihr Leben, ihre Träume ihre Wünsche und Sorgen. Und so suche ich lieber die Begegnungen mit Menschen, als irgendwelche Tempel zu besuchen. Auch hier, während meiner Ausbildung in Mysore, nutze ich jede Möglichkeit, mit den Einheimischen in Kontakt zu kommen, und manchmal verändert ein einziger Mensch das gesamte Leben.

Ich laufe gerade mit einer furchtbar schlechten Laune auf die Strasse, mit einigen Rupien in der Tasche, um mir Süssigkeiten zu kaufen. Der Tag ist nicht so gelaufen, wie ich es mir erhofft habe, und meine Laune ist mal wieder am Nullpunkt. Als ich den Süssigkeitenladen erreiche, fällt mir ein alter, dünner Mann in grauer Kleidung auf, der im benachbarten Fast-Food-Laden den essenden Leuten auf die Schulter tippt. Manche geben ihm eine Münze, manche scheuchen ihn weg, andere ignorieren ihn ganz. Ich weiss, dass in Indien nicht jeder, der bettelt, wirklich arm ist, und so beobachte ich ihn aus sicherer Entfernung. Er läuft schleppend und langsam weiter, mit gesenktem Blick geht er zum nächsten Restaurant und fragt erneut. Hier gibt ihm keiner etwas. Er schleppt sich weiter die Strasse hinunter und ich folge ihm, abwartend, wie er sich weiter verhält. Vor dem kleinen Supermarkt fragt er wieder einige Passanten, die aber alle den Kopf schütteln.

Ich denke an meinen guten Freund Srikanth aus Bangalore, er hat mir mal gesagt, ich solle die Augen offen halten, denn jede noch so kleine Mahlzeit kann für einen armen Menschen grosses bedeuten. Ich denke kurz an die Süssigkeiten, die ich eigentlich essen wollte, und eile mit schnellen Schritten zu ihm. Ich tippe ihm auf die Schulter, deute ihm mir zu folgen, und zeige auf meinen Mund um ihm zu verstehen zu geben, dass ich mit ihm essen will. Er versteht, und folgt mir langsam.

Ich gehe in das kleine Restaurant, in das ich jeden Abend gehe. Es gehört Thrishas und Ganeshas Familie. Thrisha ist 13, Ganesha ist 11, sie gehen beide zur Schule und helfen nach der Schule im Restaurant, in dem ihre Mutter, ihre Grossmutter, Onkel, Vater und Tante und Onkel zu arbeiten und zu leben scheinen. Ich verirrte mich vor einigen Tagen in dieses Restaurant, weil ich Hunger hatte und nichts anderes offen war. Restaurant ist nun ein Wort, das die Lokalität nicht ganz treffend beschreibt. Mit einem Restaurant, wie ich ihn kenne, hat dies hier lediglich eines gemeinsam: Es gibt etwas zu Essen. Ich bestellte bei Thrisha und Ganesha, die, als sie mich kommen sahen, sofort an die Kasse am Eingang des Raumes rannten, eine Idli, und während ich wartete, eilte die Grossmutter zu mir, um mich zu einem Tisch im inneren des Raumes zu bitten. Als meine Augen sich an die Dämmerung gewöhnen und ich mich umsehe, bin ich mir meiner Sache nicht mehr wirklich sicher: Des Tisch ist abgenutzt, der Tresen ebenfalls, der Boden sagen wir weniger hygienisch rein und mit etlichen grossen Löchern versehen. Ein halber Blick hinter den Tresen verheisst ebenfalls nichts Gutes. Aber nun sitze ich, und die Mutter schielt hinter dem Tresen hervor. Sie schenkt mir ein breites, freundliches Lächeln. Die Grossmutter sitzt in einer Tür neben dem Tresen und beobachtet mich ebenfalls, und die zwei Kinder tuscheln und schauen verstohlen zu mir. Ich merke, wie ich im Zentrum der Aufmerksamkeit stehe. Offenbar verirren sich nicht allzu viele Weisse hierher. Ich bekomme meine Idli, dazu Wasser in einem typischen indischen Becher aus Blech. Da ich weiss, dass solche Becher selten gewaschen werden, weil Inder den Rand des Bechers nie an die Lippen pressen, sondern sich das Wasser aus einigen cm Abstand in den Mund schütten, ich diese Technik aber nicht beherrsche, verzichte ich auf das Wasser. Statt dessen stehe ich auf und gehe zum Waschbecken, um mir meine rechte Hand zum Essen zu waschen, wie es hier üblich ist. Dabei fällt mein Blick auf die offene zweite Tür neben dem Waschbecken: Ich erblicke ein grosses Bett, darauf Hefte und Bücher, sowie eine Decke. Beim erneuten Umsehen sind diese zwei Räume die einzigen, die ich ausmachen kann, und so ist es naheliegend, dass die Familie auf engstem Raum in diesem Restaurant wohnt. Hinter der Theke und der Kochstelle scheint es noch einen Raum zu geben, den ich aber nicht wirklich sehen kann. Als ich beginne zu Essen, bete ich, dass die Zutaten gut gekocht wurden, und ich keine Krankheit bekomme. Wundern würde es mich überhaupt nicht. Es schmeckt sehr fein, und die Menschen sind so nett (Thrisha gibt mir noch zwei Portionen Nachschlag, so dass ich völlig überfüllt bin, als ich gehe), dass ich von nun an täglich wieder komme. Krank wurde ich (zum Glück noch) nicht. Später erzählt mir Thrisha völlig selbstverständlich von den vielen Ratten im Zimmer, in dem die Lebensmittel gelagert werden, und von den beiden Kätzchen, die mit im gleichen Raum schlafen. Jedesmal wenn ich komme, werde ich herzlich empfangen, man macht mir einen Platz auf den schäbigen alten Stühlen frei, und ich frage mich jedesmal, wie lange ich noch Russisch Roulett mit meiner Gesundheit spielen will. Aber das Lächeln der beiden Kinder, die liebevollen, herzlichen Gesten der Eltern und natürlich das leckere Essen lassen mich meine Bedenken jedesmal beiseite schieben. Ab dem zweiten Abendessen bringe ich den Kindern etwas Süsses mit, über die sie sich jedesmal sehr freuen. Ich frage mich, wie es wohl ist, unter solchen Umständen aufzuwachsen.

Nun gehe ich also mit dem alten Mann zu Thrishas Restaurant, und lasse Thrisha ihn fragen, was er essen möchte. Er möchte eine Dosa, und ich lasse Trisha ihn fragen, ob er zwei haben möchte. Der Mann versteht nicht und möchte nur eine. Dann erklärt Trisha ihm, dass ich ihn einlade, und er möchte doch zwei. Ich bezahle dem Mann zwei Dosa, warte noch, bis er sein Essen bekommt, schaue noch zwei, drei Bissen lang zu, und verabschiede mich dann von allen. Süsses habe ich nicht bekommen, aber der alte Mann hat zumindest für heute einen vollen Bauch.

Am nächsten Morgen, ich gehe gerade Milch kaufen, kommt eine alte Frau und bittet mich direkt um Geld. Sie sieht ausgemergelt aus, ihre kurzen weissen Haare sind zottelig und ungepflegt, ihre Hände und ihr Kleid schmutzig. Ich frage den Milchverkäufer, ob sie wirklich arm ist (ich bin mir manchmal immer noch nicht sicher), aber er zuckt nur mit den Schulten und dreht sich weg. Also deute ich ihr dass sie mir folgen soll und ich ihr etwas zum Essen kaufe. Sie folgt mir in Thrishas Restaurant, wo ich Thrisha fragen lasse, was die alte Dame essen möchte. Sie möchte zwei Idli mit Sambar, und ich bezahle. Die alte Dame faltet ihre Hände und flüstert etwas, ich nehme an sie möchte „Danke“ sagen, und ich lächele sie an. Dann zieht sie eine Münze aus ihrem Kleid und will sie mir geben. Als ich hin sehe, erkenne ich eine Rupie, und verstehe, dass sie mir zumindest einen kleinen Anteil bezahlen möchte. Ich lächele sie an und schüttele mit dem Kopf. Sie versteht, steckt die Münze wieder ein, und dankt mir erneut. Ich begleitet sie zu einem Stuhl, warte, bis sie ihr Essen bekommt und verabschiede mich.

Obdachlose sind das Eine… solange sie jung und kräftig sind, und sich selbst helfen könnten, berührt es mich nicht ganz so sehr. Aber Kinder, Behinderte und alte Menschen, die sichtlich leiden und auf andere angewiesen sind, berühren mich jedes Mal sehr tief. So auch diesmal. Als ich aus dem Restaurant gehe, steigen mir Tränen in die Augen und ich kann mich nicht mehr beruhigen. Die Inder um mich herum fragen mich natürlich, was mich traurig macht. Als ich von den alten, armen Menschen erzähle, lachen sie und sagen: „Ach von denen gibt es so viele hier. Nimm es dir nicht so zu Herzen“ und machen mit dem weiter, was sie gerade so taten.        

     

Es sind natürlich nicht nur die armen Menschen, die mich nachdenklich machen, und mich immer wieder daran erinnern, wie gut ich es doch habe. Auch ganz normale, arbeitende Frauen berühren mich oft. Viele von Ihnen haben eine für mich krasse Lebensgeschichte. Und sei es nur die für mich ungewohnte Tatsache, sich den Lebenspartner nicht selbst aussuchen zu können/dürfen.

Aber die Armen und Hilflosen sind es, die mich hier wirklich tief bis ins Mark treffen. Und so freue ich mich umso mehr, als auch mein Freund mir anbietet, Geld zu senden, um denen, die es brauchen, Essen kaufen zu können, was ich nur zu gern tue.

Es braucht nicht viel, um Gutes zu tun. Nur den Willen und den Mut, diejenige zu bemerken, die es brauchen. Und manchmal reicht auch einfach nur ein freundliches Wort und ein Lächeln.