In den ersten Tagen in Mysore bin ich auf dem Weg in ein Shopping Center an einer Strasse vorbei gekommen, an denen Zelte und notdürftig errichtete Blechhütten stehen. Man erzählte mir, das Menschen dort nicht nur Sachen verkauften, sondern auch lebten. Einige Tage später laufe ich wieder zufällig dort vorbei, und die dort spielenden Kinder erblicken mich. Sie lachen mich an, rufen mir etwas zu und winken. Ich winke mit einer Hand zurück, mit der anderen halte ich mein Handy, mit dem ich gerade telefonierte. Die Kinder folgen mir einige Meter, und als ich mich umdrehe, hält jede von ihnen ein stück Plastik in der Hand am Ohr, und sie imitieren mich lachend. Ich muss spontan laut lachen, so arm diese Kinder auch zu sein scheinen, so einfallsreich sind sie doch, und ich halte mein Handy vor mein Gesicht, um dieses süsse Bild zu fotografieren. Die Kinder reagieren blitzschnell und machen es mir nach, und so entsteht ein super tolles Bild. Als ich meine Hand senke, rennen alle vier zu mir und bleiben neugierig vor mir stehen. Von Angst keine Spur, spricht das älteste Mädchen mich an. Ich gehe in die Hocke und frage sie nach ihrem Namen. Sie ist Sarah, 8 Jahre alt, und die drei anderen sind ihre Brüder. Sarah geht in die Schule und kann ein bisschen englisch. Wir unterhalten uns ein wenig, als ihre Mutter dazu kommt. Ihre Mutter ist eine kleine, dünne Person, die sich mir als Lakshmi vorstellt. Sie erzählt mir, dass Sarah ihre älteste Tochter ist, diese die benachbarte Schule besucht, sie noch einen Sohn hat und ihre jüngste Tochter, die ihr weinend hinterher rennt, zwei Jahre alt ist.

Sie fragt mich nach meinen Namen, und stellt fest dass ich Christin sein muss, was ich bestätige. Sie sagt, sie sei aus Rajasthan (ein Staat im Norden Indiens) und auch Christin (was ich ihr auch glaube angesichts des namens ihrer älteren Tochter), und sie würden hier seit acht Jahren wohnen. Ich weiss nicht so recht, was ich darauf sagen soll, ich fühle mich in ihrer Gegenwart unwohl, weil das Gefälle zwischen uns ganz offensichtlich riesig ist. Was soll ich mit einer gleichaltrigen oder vielleicht sogar jüngeren Frau reden, die in einer Wellblechhütte wohnt und bereits drei kleine Kinder hat? Ich, die offensichtlich wohlhabender ist als sie? Wir tauschen noch einige Belanglosigkeiten aus, lächeln und verabschieden uns.

Ich beschliesse, dass ich wieder komme, und den Kindern Schokolade mitbringe, und fühle mich mit diesem Gedanken hilflos, weil diese Menschen sicher mehr als nur Schokolade brauchen würden.   

Am nächsten Tag kaufe ich Oreos, und laufe wieder am Zelt von Sarah und ihren Brüdern vorbei. Der Jüngste erkennt mich schon von Weitem und rennt lachend auf mich zu, und auch seine Brüder und Sarah kommen lachend angerannt. Ich frage sie, wie es ihnen geht und ob sie in der Schule waren. Sie lachen mich einfach nur an, und ich finde alle vier Zucker süss. Hinter ihnen fällt mein Blick auf ihre Mutter, die an einer offenen Feuerstelle sitzt und etwas kocht, und verstohlen sehe ich mich in ihrem Zelt um: Rechts steht ein Bett, hinten ein niedriges Regal und hinter dem Regal ist das Zelt nahezu offen. Es scheint der einzige Schlafplatz in dem Zelt zu sein, ich sehe zumindest kein anderes Bett. Ich frage die Mutter, ob ich den Kinder die Kekse geben darf, setze mich zu ihr und als sie freundlich nickt, nehme ich die Packung Oreos aus der Tasche. Die Kinder reissen mir die Kekse förmlich aus der Hand, und ihr Vater, der mittlerweile dazu gekommen ist, ermahnt sie energisch.

Er ist noch sehr jung und sieht eigentlich ganz gut aus, sein langes schwarzes Haar hat er zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ich frage seine Frau, wie alt sie ist, und sie antwortet sie sei 28. Ich schaue sie mir an und denke, wie viel älter ich sie doch geschätzt hätte und schäme mich. Sie fragt mich nach meinem alter und ob ich verheiratet bin. Als ich verneine, murmelt sie lächelnd etwas, was ich nicht verstehe. Die Kinder sitzen mampfend und still neben uns, und Lakshmi fragt mich, ob ich auch Tee möchte.. aber die wenigen Minuten diese Verhältnisse zu sehen reicht mir für heute. Ich weiss, eine Einladung abzulehnen ist höchst unfreundlich in Indien, und so bedanke ich mich möglichst höflich und verschiebe den Tee auf das nächste Mal. Als ich aufstehe und gehe, sehe ich, dass auch der Vater wieder weg läuft. Ich frage mich, ob er vielleicht nur dazu gekommen ist, um seine Frau zu beschützen, oder um unser Gespräch zu überwachen.     

Ich nehme mir noch mehrer Male vor, die kleine Familie zu besuchen, aber es soll nicht sein. Beim ersten Mal will ich ihnen Malstifte und Papier bringen, aber ein Freund gibt mir zu bedenken, dass ich durch mein Verhalten die Eltern in einem schlechten Licht da stehen lassen könnte, und diese es sicher nicht mögen würden. Ich will keinen Beleidigen und bin mir plötzlich nicht mehr sicher… Beim zweiten Mal entsteht ein Gespräch mit einer Mitschülerin nach der Yoga Stunde – sie gibt zu bedenken, dass man als verantwortungsvolle Eltern, auf der Strasse lebend, keine weiteren Kinder in die Welt setzen sollte (die Gesundheitsversorgung und somit auch “die Pille” sind in Indien für jeden zugänglich, erzählt sie mir) und diese noch mindestens zwei Kinder in dieser sowieso schon nicht idealen Situation in die Welt gesetzt haben. Ihre Aussage bringt mich zum Grübeln, ich weiss nicht, wie ich mich am Besten verhalten soll, und beschliesse erst einmal nachzudenken. Dann geht alles ganz schnell: Lernen und Üben für die Prüfungen besetzen all meine zeit und mein Denken, und so kommt es zu keinem weiterenTreffen mehr mit Sarah und ihrer Familie… Ich bedauere das sehr, aber ich muss auch zugeben, dass mich die Begegnung mit dieser Familie überfordert hat, weil ich einfach nicht wusste, WIE ich mich benehmen sollte. Das Strahlen der Kinder trotz, oder wegen ihrer Situation, hat mich trotzdem beeindruckt, geprägt und nachdenklich gemacht. Ich hoffe, ich werde sie im nächsten Jahr wiedersehen darf und kann. Für mich nehme ich mit, dass ich nicht viel brauchen sollte, um glücklich zu sein, Sarah und ihre Brüder strahlten, obwohl sie augenscheinlich nicht viel haben. Ich bin immer wieder aufs Neue glücklich, in der Situation zu sein in der ich bin in meinem Leben. Auch, wenn ich nicht viel habe, so habe ich doch mehr als genug und darf dankbar sein. Ich bin unendlich dankbar, dass ich die Möglichkeit habe, diese Reise machen zu können, meinen Traum von einem indischen Zertifikat verwirklichen zu können und die Erlebnisse haben zu dürfen, die ich habe. Ich bin mir durchaus bewusst, und durch Sarah noch viel bewusster, wie gesegnet ich bin.