Der 10 Tag meiner Ausbildung ist ein Sonntag. Der Sonntag sollte eigentlich frei sein, so stand es in der Ausbildungsbeschreibung. Aber um 5 Uhr klingelt der Wecker, und um 6 Uhr stehe ich in der Shala und performe meine Asanas.

Mein Körper tut weh, die Rückseite der Oberschenkel weigern sich, mich vorwärts beugen zu lassen. Alle ist einfach nur steif. Wie immer frage ich mich, wie ich die Asana-Lektion überstehen soll, ich schwitze in der schwülen Luft wie verrückt und sehne mich vergeblich nach einem kühlen Luftzug, denn nach Möglichkeit sollen die Fenster so weit wie möglich geschlossen bleiben. Im traditionellen Yoga wird alles vermieden, was den Übenden ablenkt: In der Shala gibt es keine Bilder, keine Objekte die die Augen ablenken könnten, Luft würde über die Haut und die Nase für Ablenkung sorgen. Musik läuft keine, um die Ohren nicht abzulenken und kein Mucks ist zu hören…alles, was zählt, ist die Asana, die gerade ausgeführt wird. Und so schwitze ich in der schwülen warmen Luft mehr, als alle anderen um mich herum, weil mir das Klima immer noch zu schaffen macht, und merke, wie mit der Anstrengung die Gedanken weichen.

Dieser Moment, wenn die Gedanken aufhören zu kreisen, und der Kopf leer wird, ist (neben den Erfolgserlebnissen, wenn eine Asana mal besser klappt als zuvor) der schönste Moment am Morgen. Der Kopf hört auf sich Sorgen zu machen und macht einfach mal Pause: Alle Gedanken, Sorgen, Ziele, Pläne und Nebensächlichkeiten, die mich sonst zwingen, nicht im Moment zu Leben, verschwinden. Ich höre auf, mir übelste Horrorszenarien auszumalen, die sowieso nie stattfinden, ich höre auf über Situationen nachzudenken, die sowieso bereits vergangen und unveränderbar sind, ich höre auf mir über zukünftige Situationen Gedanken zu machen, die ich sowieso noch nicht beeinflussen kann…der Kopf wird einfach leicht und leer, und alles was zählt ist die in diesem Augenblick bestmögliche Ausführung der Position im Hier und Jetzt…und mein Atem.

“Mach die Augen auf – das hier ist Hatha Yoga und keine Entspannungskur!” höre ich den Lehrer donnern und weiss, dass ich gemeint bin. ich habe eine sitzende Vorwärtsbeuge zur Entspannung genutzt…  Offenbar, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, kommt er zu mir und setzt sich auf mich, damit mein Kinn zum Boden kommt. Es tut weh, und ich versuche zu tricksen, in dem ich nur meine Nase auf den Boden drücke. “Kinn, nicht die Nase!” kommt die Korrektur prompt und ich habe keine andere Wahl, als mein Gesicht nach vorne zu drehen und die Schmerzen in der Oberschenkel Rückseite auszuhalten.

Er sitzt unbarmherzig 20 Sekunden auf mir, in den ersten zehn Sekunden versuche ich mich noch zu wehren: Ich kann nicht sprechen, ich kann mich nicht wehren, 65 kilo halten mich auf dem Boden und ich fühle mich gefangen, Angst kriecht in mir hoch. Was, wenn ein Muskel reisst und ich kann nichts sagen? Was, wenn ich aufhören will und ich kann mich nicht wehren? Blitzschnell gehen mir verzweifelte Gedanken durch den Kopf, und gleichzeitig weiss ich, dass ich keine Chance habe. Er wird nicht aufhören, bis die 20 Sekunden um sind. Ich merke, wie ich mich ergebe. Wie ich den Kampf, den ich sowieso nicht gewinnen kann, aufgebe. Meine nächsten Gedanken sind: Er macht das nicht zum ersten Mal, er weiss sicher, was er tut… und dann wiederhole ich im Kopf nur noch “Vertrauen…vertrauen…vertrauen…vertrauen…ich kann das…ich kann das…” und dann steht er tatsächlich auf und geht lächelnd weg, ich meine er murmelt noch ein “Sehr gut”.

Ich setze mich langsam auf, spüre den Schmerz in meinen Beinen, und bin kurz stolz auf mich. Stolz, weil ich meinen Kopf, meine Ängste und meine Gedanken in den Griff bekommen habe, ich weiss einmal mehr, dass ich alles schaffen kann. Stolz auf meinen Körper, weil er wieder bewiesen hat, wie toll er ist und stolz auf meine Schulwahl…ja, dieser Lehrer ist schon irgendwie cool.

Und die nächste Asana wartet schon.