Was motiviert einen indischen Mann dazu, nach der ersten Yoga-Asana-Lektion wieder zu kommen?

Das war die Frage eines meiner Yoga-Teilnehmer nach seiner ersten Yoga Stunde (nein, er verpasste zu meiner Verwunderung später keine einzige Lektion). Ich muss zugeben, ich habe über diese Frage erstmal geschmunzelt.

Dann aber fing ich an, darüber nachzudenken, wieso ICH eigentlich jeden Tag auf´s Neue in die Shallah gegangen bin und immer noch täglich meine Übungen mache… Klar, ich hatte ein Ziel vor Augen: ich wollte das Zertifikat. Und mit meiner deutschen Einstellung wollte ich die so gut, wie möglich (sehr un-yogisch eigentlich…sollte ich mich doch auf keinen Fall mit jemand Anderem vergleichen). Aber ich habe sehr schnell an mir selbst gemerkt, wie das Praktizieren von Asanas, Pranayamas und Meditation verändern kann. 

Während Yoga bei uns mehr einem hippen Lifestyle gleicht, dem man nacheifern muss, weil es irgendwie „cool“ ist, ist es in Indien schlicht und ergreifend ein Teil des alltäglichen Lebens.

Während wir Yoga-Pants und Yoga-Matten kaufen, Yogi-Tee schlürfen und Yogi-Brot essen, wird in Indien in normalen Klamotten trainiert und eine normale Gymnastik-Matte auf den Boden gelegt, Yogi-Lebensmittel kennt man nicht und man ernährt sich schlicht natürlich. Und während wir versuchen, jünger, hübscher und schlanker durch Yoga zu werden, wird Yoga in Indien zur Gesund-Erhaltung und Gesund-Werdung praktiziert.

Den alten Schriften nach ist Yoga eine Lebenseinstellung, nicht einfach nur das Einnehmen von Körperpositionen, und schon gar nicht das Zeigen des Sixpacks im Bikini in den absurdesten Posen (bevorzugt am Strand), untermalt von einem schlauen, gegoogelten Osho-Zitat.

Yoga in Indien ist ein Teil des Lebens. Es dient der gesund-Erhaltung, der Gesundung, und es gibt keinen Wettbewerb, genauso wie es keine Männer-Yoga oder Schwangeren-Yoga oder Kinder-Yoga gibt.

Die Frage, warum man(n) in die nächste Asana Stunde kommt, ergab sich bei den Besuchern meiner Shallah in Indien nicht, weil es dort (wie das Zähne putzen) zum Alltag gehört. Man geht jeden Morgen in die Schule zu seinem Guru und übt die Asanas unabhängig von der Körperfülle, um einen gesunden Körper und gesunden Geist zu haben, um den Körper und Geist in Balance zu halten, und man tut dies nicht nur für einen Kurs, sondern für Monate und Jahre. Der Lehrer ist eine Respektsperson, den man in Fragen der Gesundheit um Hilfe bitten kann, und der auch in Fragen des Lebens weiter hilft, und die Shala ist ein Ort der Ruhe und des Respekts. 

Yoga sind nicht nur Atem Übungen und Körper Positionen, Yoga umfasst Lebens-Einstellungen, Benimmregeln, Ernährungs-Vorschriften und vieles mehr, Yoga fließt in das Leben ein und ist allzeit präsent (oder sollte es zumindest sein).

Ich erlebe immer wieder, dass es für mich eine Herausforderung ist, den Teilnehmern zu erklären, was Yoga ist und was es alles umfasst – zu komplex ist dieses Thema, wenn man nicht damit aufgewachsen ist, als dass man es innerhalb weniger Stunden erfassen kann. Auch für mich als westlicher Yogalehrer ist das Thema mit unerschöpflichem Lernen verbunden.

Was also kann einen deutschen Mann (oder deutsche Frau) dazu bringen, nach der ersten Lektion weitere Yoga-Lektionen zu besuchen? Nun, ich würde sagen: In unserem hektischen Alltag braucht jeder eine Insel der Ruhe, wo er/sie sein darf, wie er/sie ist, ohne Erwartungen erfüllen zu müssen. Eine Insel der Ruhe, und wenn nur für 75 Minuten, in der er/sie nur auf sich achten und hören darf, und nur für sich selbst sorgen muss. Ein „Raum dazwischen“, ein Vakuum im vollen Terminkalender

Kurz: Zeit mit sich selbst – das höchste Geschenk in unserer heutigen Zeit. …und die Erleuchtung kommt dann mit der Zeit vielleicht von Selbst