Immer wieder fragen Menschen mich, wieso ich gerade nach Indien gereist bin, und wieso ich schliesslich auch eine Weile dort geblieben bin.
Ich gebe zu, Indien ist vielleicht nicht DER klassische Reiseziel, und viele, die Indien bereist haben, sagten mir im Nachhinein, dass sie es nicht noch einmal tun würden. Diese Aussage verstehe ich voll und ganz, denn Indien ist wirklich ein Land voller Widersprüche: Nicht nur Widersprüchlich in sich (unglaubliche Armut neben unglaublichem Reichtum), Indien und die indische Kultur ist auch in völligem Widerspruch zu unserer westlichen Kultur. In Indien begegnet man am gleichen Ort Mystik und Technologie, Magie und Fortschritt. Dies zu begreifen ist schier unmöglich, und oft war Indien für mich wie der Duft eines Räucherstäbchens: Dachte ich, etwas begriffen zu haben, entwischte es mir innert kurzer Momente wieder, und das Gegenteil zeigte sich.
Meine Reise nach Indien fing schon früh an. Ich war etwa 8, vielleicht auch 10 Jahre alt, als ich beschloss, ich müsse eines Tages nach Indien reisen. Wieso und weshalb, das kann ich heute nicht mehr sagen. Mein Elternhaus hatte nichts mit Indien am Hut, und indische Freunde habe ich erst später kennen gelernt. Ich nehme diesen frühen Wunsch, nach Indien zu reisen, einfach als Schicksal an.
Als mein zehn Jahre jüngerer Bruder anfing zu sprechen, konnte er natürlich noch kein „r“ aussprechen, und so nannte er mich „Mai-a“, woraus irgendwann Maya wurde, und verblüffender weise wurde ich fortan Maya genannt. Weder meine Eltern, noch meine Freunde stellten diesen Namen in Frage, und ich liebte „Maya“. Ich wusste, dass Maya ein indischer Name war, und obwohl ich damals noch nicht viel darüber nachdachte, liebte ich es, Maya zu sein. Ich wurde älter, und auch alle meine Lebenspartner nannten mich Maya. Es war zwar allgemein bekannt, dass ich eigentlich einen anderen Namen trug (alle lernten mich schliesslich als Maria kennen), aber sobald die Beziehungen freundschaftlich oder beziehungstechnisch enger wurden, war ich Maya. Mit 18 reiste ich für einen Sprachaufenthalt nach Brighton und kaufte mir meinen ersten, echten Saree: ein wunderschönes, violettes mit pinken und goldenen Bordüren. Zurück in Deutschland zeigten mir indische Freunde, wie man ihn trug, und ich bekam ein weiteres von einer Freundin geschenkt… ein orangenes mit Elefanten drauf.
Dann, um mein Abitur herum, versank Indien im Alltag und meiner Suche nach meinem Lebensweg. Maya war zwar immer noch mein Rufname, aber dies habe ich bereits so sehr verinnerlicht, dass ich es gar nicht mehr bemerkte. Ich hörte sowohl auf Maria, als auch auf Maya.
Viele Jahre zogen ins Land, erst, als ich 34 war, trat Indien wieder in mein Leben. Ich traf Samir.
Was heisst traf, ich habe ihn erst lange, nachdem wir uns kennen gelernt haben, persönlich getroffen. Kennengelernt haben wir uns online. Er war plötzlich da.
Mit Sam verbanden mich keine romantischen Gefühle, aber er war der beste online-philosophier-Partner der Welt. Ich kam zu der Zeit gerade aus einer schwierigen Beziehung und hatte einen Job, den ich nicht mochte. Ich genoss es, mit ihm über den Sinn des Seins zu diskutieren, ohne an einen Ort gebunden zu sein. Er schrieb mir, er sei beruflich in der Schweiz, aber zu einem Treffen haben wir es zu dem Zeitpunkt nicht geschafft. Seine Familie handelte mit Edelsteinen, und er war wohl in der Schweiz, um Solche zu verkaufen. Anfänglich sagte er mir nicht, woher er kam, und es war auch nicht von Belang. Aber dann verschwand Samir ganz plötzlich. Er antwortete nicht mehr auf Facebook, nicht auf WhatsApp, nicht auf Instagram. Er war einfach weg. Ich habe mich tage- und wochenlang gefragt, was ihm wohl passiert ist, denn wir haben uns wunderbar verstanden, ich sah keinen Grund für einen Kontaktabbruch. Und dann, drei Wochen später, kam plötzlich eine Nachricht von Sam: Er war zuhause, in Indien. Er skizzierte mir eine irre Story über eine arrangierte Hochzeit die er nicht eingehen wollte, über den Druck der Familie und den Verpflichtungen, die er nun mal habe. Über den Unglück, den er verspürte, und wie sehr er mich beneidete um meine Freiheit. Ich kann mich noch gut erinnern, wie irre und surreal mir das alles vorkam. Ich habe ihn mehrmals der Phantasterei bezichtigt, denn in meiner Realität gab es so etwas nicht. „Wo bitte im Jahr 2016 wird man noch gegen seinen willen verheiratet?“ fragte ich mich naiver weise oft (ja ich weiss… „Weltgeschehen” war damals nicht gerade meine Stärke).
Ehrlich gesagt glaubte ich ihm auch nicht, wo er zu sein vorgab, bis er mir seinen Standort sendete…ich starrte auf mein Display: Bangalore- Ein kleiner Punkt auf dem Kontinent Indien. Und ab da beherrschte Indien wieder meine Gedankenwelt. Plötzlich erinnerte ich mich wieder an die Träume der kleinen Maria Maya: An meine Sarees, an meine Bindis, daran, dass ich in Goa am Strand essen und tanzen, im Taj Mahal lachen, und ein indisches Mädchen adoptieren wollte. Alle diese längst verschüttete Erinnerungen drängten sich mir plötzlich wieder auf, und ich beschloss: „Jetzt ist es an der Zeit für diesen Traum“.
Ausserdem wollte ich unbedingt Sam treffen. Dieser geheimnisvolle Mann, der so gutaussehend wie verwirrend war, mit seiner Lebensgeschichte zwischen Reichtum und Traurigkeit, zwischen Freiheit und Gefangenschaft. Wir schrieben zwar weiterhin, aber die Themen haben sich geändert, etwas war mit ihm passiert. Er war nicht mehr so tiefgründig, er wurde in seiner Konversation trauriger und verschlossener. Als ich ihm mitteilte, dass ich beschlossen habe, nach Indien zu kommen, riet er mir wehement ab. Ich solle das nie tun, ich würde es dort nicht aushalten, es sei dreckig und es stinke, und es sei voll und laut in Indien. Indien sei nichts für ein zartes Wesen wie mich. Ich solle lieber Malediven oder die Karibik bereisen.
Auch viele Freunde und Bekannte rieten mir dringend von einer Indien Reise ab, es sei dreckig dort, Frauen seien nicht sicher, und ich würde sicherlich dort umgebracht werden.
Diese Aussagen ärgerte mich so, dass ich schnellst möglich Urlaub einreichte. Noch am selben Abend googelte ich in Delhi Fahrer (ich weiss selbst nicht, wieso ich keine sichere Gruppenreise gebucht habe). Ich wurde schnell fündig, denn Fahrer in Indien gibt es, wie Sand am Meer, und jeder ist mehr als glücklich über eine Europäerin als Kunden. Der Preis war ausgehandelt, und Sam schloss langsam Frieden mit meinem Vorhaben. Er wollte sogar zehn Tage mit mir im Norden reisen. Ich malte mir alles in den leuchtendsten Farben aus, bis ich im September ernsthaft erkrankte.
Ich wurde sofort von der Arbeit befreit, und der Arzt machte mir keine Hoffnung auf allzu baldige Besserung. Er stellte ein minimum von zwei bis drei Monaten, vielleicht aber auch länger, Krankenstand in Aussicht. Ich war verzweifelt, aber ich habe instinktiv gespürt, dass ich diese Zeit brauchte. In der ersten Woche habe ich praktisch nur geschlafen, in der Zweiten ebenfalls. Manchmal schaffte ich es, für zehn Minuten aufzustehen und draussen an der frischen Luft einige Schritte zu gehen, um danach erschöpft auf dem Sofa wieder einzuschlafen. Zum Glück haben Freunde und Nachbarn mich ab und zu besucht (wenn ich es mal zugelassen habe), mich ermutigt und aufgebaut.
Bei den wöchentlichen Arztbesuchen erwähnte ich einmal beiläufig die geplante Reise nach Indien, und zu meiner Überraschung war mein Arzt hellauf begeistert. Er meinte, das sei genau das, was ich vielleicht brauche, um wieder gesund zu werden. Ich solle „weit weit weit weit weit“ weg, etwas ganz Neues erleben, um eine neue Perspektive auf mein Leben zu bekommen und danach, wieder gesund, alles neu zu beginnen.
Nun, da stand ich also… und ich gebe zu, hatte die Angst meines Lebens. Noch nie habe ich mich so schwach und un-bereit für etwas gefühlt. Noch nie hat mich etwas so sehr geängstigt, wie in meinem schwachen Zustand in ein solch exotisches Land zu reisen. Sam wusste nichts davon, dass ich krank war, das wollte ich ihm nicht sagen. Dass er mit mir reisen wollte, hat mich aber beruhigt. Also nahm ich all mein Mut zusammen, und buchte zwei Wochen vor der Abreise einen Flug. Einen Tag später cancelte Sam unsere Reise. Seine Familie verbot es ihm.
Also bereitete ich mich darauf vor, diese Indien-Reise allein zu machen. Ich sagte dem Reiseveranstalter in Delhi bescheid, und zu meiner Überraschung war die erneute Umbuchung überhaupt kein Problem. Ich bekam einen sympathischen älteren Fahrer an die Seite gestellt, alle Hotels waren gebucht und ich hatte den kompletten, minutiösen Ablauf per Mail bekommen. Ich begann, mich etwas zu entspannen, und sogar etwas Vorfreude kam auf.
Eine Woche vor Abflug postete ich mein Vorhaben, mehr aus Spass, in einer Nomaden-Gruppe auf Facebook, und etliche nette Menschen meldeten sich, die auch zu der Zeit in Indien waren. Einer von Ihnen war auf Anhieb sympathisch… er war Fotograf, er hatte Zeit, und wir beschlossen spontan, gemeinsam zu reisen. Er buchte Zimmer in den gleichen Hotels wie ich und ich klärte mit dem Reiseveranstalter, dass eine zweite Person mit uns fährt. Überraschenderweise war wieder alles ganz leicht, und ich begann mich wirklich auf diese Reise meines Lebens zu freuen.
Der Abflug rückte näher, und am Tag der Abreise schlug mir mein Herz bis zum Hals. Meine beste Freundin und mein Nachbar, der sich rührend um mich kümmerte, begleiteten mich zum Flughafen und blieben, bis ich am Gate verschwand, um sicher zu gehen, dass ich wirklich flog.
Nun war ich allein… und Indien wartete auf mich.