Die Inder, die ich kennen gelernt habe, lachten immer gern und herzlich, wenn ich über die Yoga Stunden in meiner Heimat erzählte. Im Gegenzug können sich meine Schüler in Deutschland nicht vorstellen, dass Yoga in Indien so völlig anders ist, als das, was Ihnen als Yoga verkauft wird. Ich werde immer wieder gefragt, WAS denn nun die Unterschiede sind… Hier habe ich mal einige aus meiner Sicht und meiner Erfahrung zusammen getragen:

1. Yoga für die Gesundheit vs. Yoga als Sport

In Deutschland wird Yoga oft als „Sport“ getrieben und auf die Asanas reduziert. In Indien dagegen spielt Yoga eine wesentliche Rolle in der Gesund-Wertung und der Gesund-Erhaltung der Bevölkerung. Schon die Kleinsten lernen die Grundpfeiler des Yoga: Pranayama und Asanas werden schon den Jüngsten beigebracht, und durch Nachahmung und Mitmachen wird Yoga zum alltäglichen Bestandteil des Lebens. Die Ernährung ist natürlicherweise „sattvic“, also „rein“ – „erhellend“ – „klar“ und gewaltfrei. Durch spezielle Asanas und Atemübungen können Krankheiten verhindert oder gelindert werden, Organfunktionen angeregt oder gemindert werden und sogar mentale Blockaden und Zipperlein können behoben werden. Yogalehrer haben ein umfassendes Wissen darüber, welche Asanas bei welchen Krankheiten gemacht und bei welchen vermieden werden müssen und können so auch individuelle Trainingspläne erstellen.    

2. Yoga in Indien ist Ganzheitlich

Während ich in Deutschland Yoga meist auf die Körperübungen, und vielleicht noch die Atemübungen, reduziert wird, ist Yoga in Indien eine alles umfassende Lebensweise, die die Ernährung, Bewegung, Meditation bzw. Ruhezeiten, Atemübungen einschliesst, aber auch das tägliche Verhalten Tieren und Menschen gegenüber einschliesst und regelt. So ist es völlig normal, dass Inder Karma-Yoga praktizieren, also das selbstlose Arbeiten zugunsten der Gemeinschaft (in welcher Form dies auch immer geschieht).

3. In Indien ist Yoga tägliche Morgenroutine

Während den westlichen Gefilden die Menschen froh sind, wenn sie wenigstens eine Lektion in der Woche besuchen können, ist Yoga für die meisten Inder ein täglicher Bestandteil des Lebens. Die Menschen, die ich kennen gelernt habe, besuchten entweder ihre Yoga Shala täglich um 6:00 Uhr und starteten mit ihrem Lehrer in den Tag, oder trafen sich in kleinen Gruppen in einem Park und machten dort zumindest Atemübungen und Sonnengrüsse.

4. Indische spartanische Schulen vs. westlichen „Schnickschnack“

Die ursprüngliche Yogaphilosophie besagt, dass ein Ort, an dem Yoga gemacht wird, sauber, frei von Staub, Wasser, Wind und Feuer und ohne Ablenkungen sein soll. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass indische Yogaschulen spartanisch eingerichtet bis vollkommen leer sind, während westliche Yogaräume gern bis zum brechen mit vermeintlich indischem Schnickschnack vollgestopft sind, um für die Kunden mehr „Flair“ zu kreieren.  Die Yogaschule, in der ich gelernt habe, war ein grosser weisser Raum mit genau „nichts“ an den Wänden, ausser dem Logo der Schule. Was mir anfänglich befremdlich vorkam, habe ich im Laufe meiner Zertifizierung verstanden: Es ist herrlich, wenn man sich einfach, ohne abgelenkt zu werden, auf sich konzentrieren kann. 

5. Kinder-, Männer-, Bier-, Schwangeren-, Alten-, Katzen-, Hunde-, Power- und Frauenyoga

Während es bei uns im Westen alle mögliche Arten von Yoga gibt, und jede Zielgruppe seine eigene Yoga-Art zu haben scheint, gibt es in Indien eins: nämlich Yoga. Ich habe im Rahmen meiner Zertifizierung in meiner Schule die morgendliche Asanaclass besucht, und bereits dort zu meiner Überraschung festgestellt, dass dort Anfänger, Fortgeschrittene, zertifizierte Lehrer und Jugendliche gemeinsam, aber jeder im Rahmen der eigenen Möglichkeiten, gemeinsam performen.  Platt war ich dann, als ich die Kinderyoga Lektion am Abend besuchte, und entgegen meiner Erwartungen alle Kinder zwischen 4 und 15 Jahren die genau gleichen Abläufe performten, wie die Erwachsenen am Morgen. Vom Anfangsgebet über die Sonnengrüsse bis zu den Asanas gab es keine Unterschiede; ausser, dass die Kinder die Körperstellungen nicht ganz so „perfekt“ machten, wie mancher Erwachsene. Und, dass die Lehrerin mit einem Stock unterrichtete, und bei Bedarf mit ihm auf die betreffende Körperstelle zeigte, wenn ein Kind mal zu falsch stand. Nicht, um zu schlagen, sondern um den Körperkontakt zu vermeiden. Im Übrigen findet auch „Kinderyoga“ täglich statt und alle Kinder nehmen täglich teil. Übrigens: Schwangerenyoga gibt es tatsächlich auch in Indien 🙂 

6. Yoga-Kleidung und nackte Haut

Während sich bei uns eine regelrechte Industrie rund um „Yoga“ gebildet hat, und der westliche Yogi von der Tasse bis zur Bettwäsche alles kaufen kann, ist in Indien „Yoga“ noch mehr oder weniger unkommerzialisiert. Leider ändert sich das sehr schnell, und so wird auch in Indien, vor allem in den grossen Städten, der Kommerz immer mehr. Und während bei uns gern mal in Hotpants und Sport-BH performt wird, und der eigene (vermeintlich) heisse Körper gern gezeigt wird, gilt es in Indien immer noch als verpönt, zu viel Haut zu zeigen. So sind zwar enge Leggings kein Problem mehr, aber enge Oberteile, die womöglich beim Handstand auch noch ein bisschen Bauch zeigen könnten, oft noch undenkbar. Shirts und Tops werden bei Männern wie Frauen in die Hose gesteckt und immer noch tragen viele Frauen die typischen, indischen Puff-Hosen, um ja nicht zu viel Körperformen preiszugeben. Auch ich empfinde es in Indien als respektlos, nackte Haut zu zeigen und so womöglich jemanden vom Wesentlichen abzulenken.

Ob ich in Deutschland je wieder in Sport-BH und HotPants Asanas trainieren werde? … Weiss ich nicht 🙂 erstmal ganz sicher nicht.    

7. Deutsche Yoga-Trainer-Dienstleister vs. Indische Yoga-Lehrer-Guru

Als ich meine Zertifizierung in Indien beginne, bekomme ich ein Handbuch. Auf eine der ersten Seiten lese ich die Regeln, wie ich mit meinem Lehrer umzugehen habe: Ich darf seine Sachen nicht berühren, soll es vermeiden, ihn selbst zu berühren, um nur zwei zu nennen. Im Umgang mit ihm gibt es ungeschriebene Verhaltensregeln, die alle einhalten: Wir reden ihn mit „Sir“ an statt ihn beim Namen zu nennen (oder nennen ihn beim Vornamen und hängen den respektvollen „Sir“ hinten dran), wir reden leise mit ihm und flüstern, wenn er anwesend ist, wir verdecken unsere Körper (um dann im Sport-BH Fotos zu machen, wenn er nicht anwesend ist 😉 ) und haben es nicht gewagt, während seiner Korrekturen zu sagen, dass es weh tut. Nie hätten wir es gewagt, unseren Lehrer wirklich in frage zu stellen. Klar haben wir manchmal untereinander diskutiert, und über den Einen oder Anderen vermeintlich negativen Punkt gelästert. Aber wir haben eigentlich alle gewusst, dass niemand dies wirklich so meinte und diese Lästereien mehr kindisches Gehabe war.

Wir haben vor unserem Lehrer Respekt: Wir fragen, ob wir eine Frage stellen dürfen, wir diskutieren mit ihm nie persönlich, wenn wir anderer Meinung sind, wir stellen seine Trainingsmethoden nicht in Frage, wir stellen seine Unterrichtsmethoden nicht in Frage. Ich spüre, dass alle grossen Respekt vor ihm haben, und auch vor den anderen Lehrern haben wir wirklich Respekt, wie ich es aus Deutschland oder der Schweiz nicht kenne.

Meiner Erfahrung nach ist ein Yoga-Trainer im Westen ein Dienstleister, der vom Kunden bezahlt wird und diesem gefallen muss. Er oder Sie wird ohne mit der Wimper zu zucken in Frage gestellt und negativ bewertet, wenn der Kunde mal aus irgend einem Grund unzufrieden ist.        

8. Ommmmm „Gesang“

Ja, in Indien wird ohne Scheu gesungen.  Es ist völlig normal, Anfangs- und Endgebet zu singen und zB. die Sonnengrüsse durch sogenannte Bija Mantras zu unterstützen. Während in Deutschland die meisten Schüler noch nicht einmal das „Om“ über die Lippen bringen, ist man sich in Indien der heilenden Wirkung der eigenen Stimme bewusst und singt Mantras gern und ohne Scheu. Ob die eigene Stimme dabei „gut“ klingt oder nicht, interessiert keinen. Ich muss zugeben, der schönste Moment (den ich vor lauter Faszination leider nie aufgenommen habe) des Morgens war der gemeinsame „Om“… der erste Om war meist noch ein klein wenig schief, aber dann gingen alle Schüler mit dem Lehrer in Resonanz, und der zweite Om klang bereits vollkommen und göttlich – es hatte wirklich etwas von Kirchengesang… nur irgendwie viel durchdringender und klarer. Ich bildete mir jedenfalls immer ein, die Vibrationen der vielen Stimmen, die sich zu Einer vereinten, in jeder Faser meines Körpers spüren zu können, und dieser Om berührte mich oft ganz tief. Lustig fand ich meine Beobachtung, dass meine Stimme mit Menschen, mit denen ich auch ausserhalb des Yogaunterrichts gut auskam, eher harmonierte, als mit der Stimme von Menschen, die mir auch persönlich nicht ganz „grün“ waren 😉