Der Wecker klingelt pünktlich um 5 Uhr, ich steige aus dem Bett und weiss kurz nicht, warum ich aufstehen muss, erst, als ich das Bad betrete, fällt es mir wieder ein. Um 6 Uhr muss ich wieder in der Shala auf meiner Yogamatte stehen. Also mache ich mich fertig und registriere inzwischen nur noch nebenbei meine schmerzenden Muskeln.

Als ich um 5:45 meine Zimmernachbarin rufe, teilt sie mir mit, dass sie heute nicht mitkommt, und so laufe ich alleine los und bin überpünktlich in der Shala. Ich lege meine Matte aus, nehme mein Buch zur Hand uns fange an zu lesen während ich auf die anderen warte. Aber ausser mir kommt niemand. Es wird 6 Uhr und ich bin immer noch alleine. Kurz nach 6 steigt mir der Duft von Räucherstäbchen in die Nase und ich höre ein leises, zartes Glockenklingeln. Kurz darauf erscheint der Lehrer, setzt sich auf seine Matte und wir Ohm-en drei mal gemeinsam. Nach dem Anfangsgebet fragt er mich, ob ich das Beginner-Programm, das wir gestern besprochen haben, noch kann, und ich nicke zögerlich. Wenn ich alleine mit ihm bin, will ich keine Fehler machen, das weiss ich, aber ich weiss auch, dass ich die Asanas, die mir neu sind, noch nicht mit Namen den Übungen zuordnen kann.

Ich beginne, und mit jeder Asana, die ich richtig mache, werde ich mutiger und freue mich riesig. Der Nutzen dieser Übungsreihe erschliesst sich mir voll und ganz, und ich frage mich, wieso mir das noch nie jemand gezeigt hat, und wieso ich noch nie diese Übungsreihe in einer Anfängerstunde in Deutschland gesehen habe. 

Ich sehe, dass mein Lehrer auch ein wenig beeindruckt ist. Nicht nur, dass ich an einem Sonntag um 6 vor ihm auf der Matte stehe, ich gebe mir als nicht-Inderin offenbar so viel Mühe, dass er es immerhin mit einem Lächeln und einem „very good“ quittiert.

Nach 75 Minuten haben wir es geschafft, ich frage noch einige Fragen, die mir auf dem Herzen liegen, und dann gehe ich nach Hause.

Sonntags bekomme ich kein Essen nach Hause geliefert, also muss ich mich selbst darum kümmern. Da wir um 10:30 Uhr einen Massagetermin haben, zu dem wir mit leerem Magen kommen sollten, beschliesse ich, nur einen Kaffee und zwei Zwieback zu mir zu nehmen. Da ich meine Zimmernachbarin nicht wecken möchte, laufe ich ein wenig in den Strassen herum und beobachte, wie unser Viertel erwacht. Beim Umherlaufen telefoniere ich mit meinem Freund und zeige ihm per Video Chat alles, was ich auch sehe. Es ist jedesmal ein seltsames Gefühl, jemandem diese “meine” Welt zu zeigen, dieses Stück Heimat meiner Seele, von der viele unangemessen  krass und negativ denken. Ich weiss, dass ich super enthusiastisch darüber bin, hier zu sein, und nicht jeder teilt diese Liebe. Hinzu kommt, dass ich mir sehr gut vorstellen kann, länger hier zu leben, und dies auch unbefangen mitteile, was wiederum abschreckend wirken kann. So ist auch mein Freund, glaube ich, oft hin und hergerissen und eingeschüchtert von meinem Strahlen, wenn ich durch die dreckigen, staubigen und fremdartigen Strassen schlendere.

Indien ist für mich immer noch, oder immer mehr, ein zweites Zuhause. Ich fühle mich hier einfach wohl, ich habe keine Angst, ich hatte noch nie Angst und ich habe auch noch nie etwas Schlechtes erlebt. Natürlich ist es manchmal eine Herausforderung, mit den ungewohnten Sitten umzugehen (zB kann ich es nicht ab, wenn Hühner auf der Strasse geköpft werden, oder Fleisch in der Sonne hängt und darauf wartet, verkauft zu werden). Ich habe grosse Probleme damit, arme Menschen zu sehen, vor Allem, wenn sie alt sind. Ich überquere Strassen immer noch sehr zögerlich, und ich ziehe mich selten knapp an (obwohl es überhaupt kein Problem wäre). Dagegen liebe ich die Offenheit der Menschen, ihre Freundlichkeit, ihr Lächeln, ihre Hilfsbereitschaft, ihre unendlich positive Einstellung und ihre farbenfrohe Kleidung (ja ich liebe es, Sarees und Salvar zu tragen. Ich habe diesmal sogar meinem Freund als Geschenk ein Set gekauft). Das Essen hängt mir üblicherweise nach einigen Wochen irgendwann zum Hals raus, aber es gibt ja Mc Do, meine eigene Küche und Restaurants, die auch westliche Küche anbieten. Kurz: Für mich ist Indien einfach THE PLACE TO BE.   

Ich laufe also ziellos die Strassen entlang, zeige ihm Blumenverkäuferinnen, Gemüsehändler, Menschen die in die Tempel eilen, Kinder, die auf der Strasse herum laufen, offensichtlich arme Menschen und offensichtlich Heimatlose, die in notdürftigen Unterkünften aus Planen und Brettern hausen. Hier und da läuft ein herrenloser Hund vorbei, herrenlose Kühe laufen gemächlich auf der Strasse umher und Autos und Mofas umfahren sie. Vor meinem Lieblings-Strassenkaffee hat sich eine Traube aus Männern gebildet, und ich stelle mich für einen Kaffee dazu. Danach laufe ich die Strasse wieder zurück. Ich fotografiere noch einige spielende Kinder, denn ich habe einen Narren an indischen Kindern gefressen, und trinke einen GooseberrySaft (in der Theorie ist es Stachelbeere, aber es ist eine furchtbar bittere, grüne kleine Frucht, die irgendwie garnicht an die Stachelbeere in unserem Garten zuhause erinnert, oder ich habe einfach keinen Plan, was bei meinem nicht-vorhandenen grünen Daumen gut sein kann), bevor ich in unserem Apartment nach meiner Zimmernachbarin schaue.

Sie ist schon wach, und so beschliessen wir, uns eine Rikshaw zu rufen, und zur Massage zu fahren.

Die Massage entspannt unsere vom Training geplagten Muskeln, und die Iranerin, die die Massagen macht, offeriert uns noch einen leckeren Kuchen und Tee. Wir reden noch ein wenig, und machen uns dann auf den Weg in Richtung Zuhause.

NAUf dem Heimweg beschliessen wir, noch Mädchenzeug, wie shoppen und Kaffee trinken, durch die Läden bummeln und Essen gehen, zu machen: Es ist schön, mal ganz locker durch die Strassen gehen zu können. Meine letzten Aufenthalte waren von Angst und Kontrolle geprägt, und so geniesse ich es sehr, diesmal auf eigenen Beinen und beinahe allein frei herumlaufen zu können.

Zuhause holt mich dann wieder mein Kurs ein, ich lerne noch, bevor ich müde, aber überglücklich ins Bett falle.