Mein erster Flug nach Indien war mit der Swiss Air. Ich sass neben einem älteren Inder, der mich nach dem servierten Abendessen nur zu gern zugequatsch hat, und schon bald kannte ich seine gesamte Familie, die auf allen Kontinenten verteilt zu sein schien. Dass dies in Indien völlig normal ist, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich liess die Geschichten des netten, älteren Mannes über mich ergehen, und hoffte auf baldige Landung.

Als wir endlich gelandet sind, und ich das erste Mal indischen Boden betrat, fühlte ich mich trotz bleiernen Müdigkeit einfach spitze. Es fühlte sich unbeschreiblich an, einen Jahrzehnte alten Traum endlich erfüllt zu bekommen. Der Boden des Indira Gandhi Airports war mit einem dicken, flauschigen Teppich ausgelegt, und die Wand entlang des Weges zur Passkontrolle war mit riesigen goldenen Händen, die verschiedene Mudras zeigen, verziert. Ich war beeindruckt, fasziniert und gleichzeitig etwas verängstigt, denn plötzlich umgaben mich eine riesige Menge von Menschen.

An der Visa und Passkontrolle verlief sich die Menge etwas, aber es waren immer noch mehr Menschen, als ich in der im Vergleich dünn besiedelten Schweiz gewohnt war. Da ich auf das Warten in Indien gefasst war, wartete ich geduldig über eine Stunde, bis ich durch die Passkontrolle war und endlich meinen Fahrer suchen konnte. Zum Glück fand ich ihn ganz leicht, und er begann, mich zum Taxi zu bugsieren. Bevor ich in sein Auto stieg, bekam ich einen vermutlich wunderbar duftenden Blumenkranz um den Hals. Allerdings habe ich von dem Duft wenig gerochen – die dicke, schwüle Luft neu Delhis verdrängte den zarten Blumenduft völlig. Ich durfte vorne sitzen, und ich beobachtete während der Fahrt aufmerksam meine neue Umgebung. Ehrlich gesagt, ich kann mich daran erinnern, dass mir alles zu viel war und ich wenig bis gar nicht verstand, was der Fahrer Mr. Singh mir erzählt hat. Mir sind einige Kühe, einige streunende Hunde und einige auf der Strasse schlafende Menschen in Erinnerung geblieben. Und, dass meine Frage, warum diese Menschen auf der Strasse schlafen, nicht beantwortet wurde. Dies sollte mich auf allen zukünftigen Reisen begleiten, das wusste ich nur noch nicht. 

Nach etwas mehr als einer Stunde kamen wir im Hotel an, ich wurde in ein kleines Zimmer geschoben, und Mr Singh sagte mir, er würde früh um 9:00Uhr wieder da sein. Er verabschiedete sich, und dann war ich allein. Mein Zimmer sah auf den ersten, müden Blick ganz gut aus (wobei ich mir Erwartungen hinsichtlich europäischem Komfort sowieso aus dem Kopf geschlagen habe), ausser dass ich kein Fenster zu haben schien, war ich ganz zufrieden und schlief erschöpft ein.

Am Morgen wachte ich schon lange vor dem Wecker auf. In Abwesenheit sämtlicher Fenster öffnete ich meine Augen und starrte blind in die völlige Dunkelheit. Ich brauche nur ganz kurz, um mich zu erinnern, wo ich war, dann lauschte ich gespannt auf die Geräusche: Viele viele Schritte, die über Steinboden liefen; bellende Hunde, Menschen, die durcheinander redeten, Motoren, ab und zu eine Kuh, und immer wieder hupten Autos. Das alles gleichzeitig, in einer immer wiederkehrenden Salve und in einer unglaublichen Lautstärke. Während ich mich blind auf meinen einzigen brauchbaren Sinn konzentrierte, erfüllte mich eine riesige Freude: Es war nun kein Traum mehr – ich war tatsächlich in Indien! Ich hörte noch kurz in die Dunkelheit hinein, dann sprang ich auf, zog mich an und huschte aus dem Zimmer. Sofort wurde ich von fünf wartenden Männern angestarrt, die es offenbar sehr seltsam fanden, mich zur Ausgangstür rennen zu sehen.

An der Tür angekommen starrte ich auf die Strasse, die mir den seltsamsten, unglaublichsten Anblick überhaupt bot. Ich sah eine staubige, löchrige, breite Strasse, die an beiden Seiten von mehr oder weniger intakten Gebäuden gesäumt war. In den Gebäuden, sowie davor gab es Geschäfte und Stände. Überall lagen kleinere und grössere Müllhaufen. Einige Kinder schleppten volle Plastiksäcke, ältere Männer zogen Karren voller Müll hinter sich her, hupende Autos und Motorräder schoben sich langsam durch die Fussgänger, hier und da stand ne Kuh und muhte vor sich hin, Hunde liefen umher, manchmal kam eine von einem Mann gezogene Rickshaw vorbei, und viele viele Menschen. Es war ein sehr fremder Anblick, aber ich liebte es. Ich konnte mich kaum satt sehen an den vielen neuen und unbekannten Dingen auf der Strasse, und so blieb ich stehen, bis Mr Singh erschien und mich ohne Frühstück zum Auto begleitete.

Ich habe mir vor dem Abflug vorgenommen, Allem, was ich sehe, möglichst unvoreingenommen zu begegnen, nicht zu Urteilen und vor Allem nicht mit meinem europäischen Gehirn zu denken. Das gestaltete sich aber gar nicht so einfach, wie ich schnell feststellen musste. Schon auf der Fahrt zum ersten Tempel sah ich so viele Sachen, die so garnicht meiner Erfahrung entsprachen: die Strassen waren manchmal so staubig und löchrig, dass ich Angst hatte, unser Fahrzeug würde einen Achsenbruch erleiden. Kinder und ältere Menschen, die, sobald wir an Ampeln standen, an meinem Fenster bettelten, und mein Fahrer der stur nach Vorn schaute und mich anwies, das gleiche zu tun. Menschen, die auf den Gehwegen (falls man das so nennen kann) schliefen. Von den streunenden Hunden und Kühen, die auf den Strassen lagen und friedlich vor sich her muhten, während die Autos und Motorräder ihnen geduldig auswichen, will ich gar nicht erst anfangen. Und dieser unglaubliche Geräuschpegel, diese niemals endende Flut aus Hupen, Schreien, Motoren, Bellen und Muhen.

Wie ich später lernen sollte, ist Indien an manchen Orten genau das: Laut, dreckig, staubig, unbarmherzig und gleichzeitig doch zärtlich, sanft, unglaublich wohlduftend und überaus freundlich.

Eben unbegreifliche „Unity in Diversity“. Das ist Indien.