Unser erstes Ziel nach Neu Delhi war Agra, natürlich wollte ich den Taj Mahal besuchen. Ich kannte dieses weltberühmte Gebäude von Bilder, ich kannte einen Teil der Geschichte dazu, und ich war super aufgeregt. In Agra angekommen fuhren wir zunächst zum Taj Mahal View Point auf der anderen Seite des Flusses. Wir liefen durch einen Garten auf den Taj Mahal zu, es ist sehr surreal, plötzlich vor etwas zu stehen, was man sonst nur von Bildern in TV und Zeitungen kennt: Dieses unwirkliche, wunderschöne Gebäude auf der anderen Seite des Flusses, das majestätisch und gross am Flussufer thront, ist wirklich unbeschreiblich schön. Selbst aus der Ferne kann man schon die Erhabenheit spüren. Das ganze Gebäude scheint aus Spitze gearbeitet worden zu sein, und fast erschien es mir unwirklich, als ich den kalten Stein selbst anfassen konnte.

Vom View Point besuchen wir den Black Taj Mahal, ein ebenfalls beeindruckendes Gebäude, das mir einen ersten Eindruck von dem vermittelte, was mich am nächsten tag im Taj Mahal erwartete.

Wie so oft, waren es aber die Begegnungen, die mir im Gedächtnis blieben. So habe ich auch Agra mehr wegen einen der berührendsten und bedrückendsten Begegnungen in Erinnerung behalten, als wegen der Schönheit des kalten Taj Mahals.

Als wir am nächsten Morgen in der Früh zum Taj Mahal fuhren, war ich super aufgeregt und fröhlich. Am Parkplatz des Taj Mahals kauften wir uns die Tickets, stiegen in ein Bus und liessen uns mit tausenden anderen Touristen zum Taj Mahal fahren. Im Taj Mahal schoben wir uns mit den anderen durch den Garten, durch das Tor, durch das Gebäude, machten Fotos, hatten Spass und ich machte gefühlt hundert Selfies mit jungen Indern. Kurz: Es war ein wirklich gelungener Tag und der Taj Mahal ist tatsächlich ein beeindruckendes Gebäude. Ob ich es jedoch nochmals besuchen würde, weiss ich nicht, denn ich habe mal wieder festgestellt, dass Steine und Gebäude mir weniger bedeuten und erzählen, als die Begegnungen mit Menschen.

Zurück zum Auto mussten wir wieder mit dem Touristenbus fahren. So stiegen wir in eines der Busse, und standen und beobachteten das Treiben auf dem Weg zurück zum Parkplatz. In der letzten Kurve vor dem Parkplatz sah ich, wie eine Gruppe Bettler auf die Busse zu lief, offenbar, um die wiederkehrenden Touristen zum betteln abzufangen.

Bettler habe ich bis zu diesem Zeitpunkt bereits einige gesehen, aber einer fiel mir diesmal besonders auf. Ein älterer Mann, ich könnte heute garnicht mehr sagen, wie alt er gewesen sein könnte, lief in trockenen Staub auf die Busse zu. Genau genommen lief er nicht, er galoppierte auf zwei Händen und einem Bein, das zweite Bein hing schlaff und dünn an seiner Hüfte hinunter und baumelte unkontrolliert bei jedem Schritt hin und her. Das Bein war degeneriert und offensichtlich gelähmt. Obwohl mein langjähriger Ex-Lebensgefährte ohne Beine lebte und ich an den Anblick von körperlicher Behinderung gewöhnt war, schockierte mich der Umstand, dass dieser Mann hier im Staub kroch. Seine Kleider und sein Gesicht waren staubig und dreckig, sein Bein vermutlich durch Polio atrophiert. Ehe ich mich versah schoben mich die Menschen hinter mir aus dem Bus, und der Mann lief direkt auf mich zu. Ich kann nicht beschreiben was ich in diesem Moment gefühlt habe, alles ging zu schnell: Mein Begleiter sah wohl das Entsetzen in meinem Gesicht, nahm mich in den Arm, so dass ich von dem Bettler wegsehen musste, schubste den Bettler weg, schob mich zu unserem Auto, das wohl nur einige Meter neben uns gewartet hat, öffnete blitzschnell die Tür und setzte mich hinein. Gerade, als die Tür sich schloss erreichte der Mann unser Auto und klopfte an mein Fenster. Mein Fahrer schubste ihn erneut weg, und sagte etwas in einem nicht gerade freundlichem Ton zu ihm, setzte sich ins Auto und fuhr einfach los, ohne darauf zu achten, dass der Mann schon wieder halb an meinem Fenster stand, und eventuell hätte verletzt werden können.

Ich sass auf dem Rücksitz und fühlte mich hundeelend. Zum Einen habe ich furchtbares Mitleid für diesen armen, behinderten Menschen empfunden, ich konnte nicht begreifen, dass so einem Menschen nichts anderes übrig zu bleiben scheint, als unter diesen Umständen zu Betteln. Gleichzeit war ich entsetzt über das kalte, mitleidslose Verhalten meiner Begleiter. Ich verstand, dass Betteln nicht die Lösung war, aber musste man deshalb so kalt und rücksichtslos reagieren? Während mir Tränen den Wangen hinunter kullerten, sah mein Begleiter mich fragend an. Mit erstickter Stimme versuchte ich ihm zu erklären, dass mich diese Situation gerade, überforderte und ich seine Reaktion nicht verstand. Er sah mich verständnislos an und zuckte mit den Schultern, offenbar verstand er meinen Standpunkt nicht. Und so fuhren wir schweigend zurück zu unserer Unterkunft. Er auf der einen Seite aus dem Fenster starrend, ich auf der anderen Seite, weinend und nicht wissend, wohin ich dieses eben Erlebte stecken sollte.

Solche, oder ähnliche Situationen sollte ich noch einige Male erleben, und die Kälte der Menschen gegenüber ihren Mitmenschen trifft mich auch heute noch bis ins Mark. Natürlich habe ich irgendwann über das Geschäftsmodell des Betteln gehört, dass manche Menschen sich oder Angehörige bewusst verstümmeln, betteln, und dadurch ein gutes Einkommen erzielen. Es ist einfach nicht möglich, den wahren Bedürftigen vom Betrüger zu unterscheiden, und so bleibt es mir bis heute ein Rätsel, wann ich helfen kann und darf, und wann nicht.            

Ich habe auch gelernt, dass Mitgefühl in einer Gesellschaft, in der ein Menschenleben aus ganz verschiedenen Gründen nicht besonders viel zu zählen scheint, nur in Maßen existiert. Mit der Zeit habe ich gelernt, dieses Verhalten nicht zu verurteilen, aber daran gewöhnt habe ich mich nicht.