Die Gesetze meines yogischen Alltags

Die Tage pendeln sich langsam ein – der Ablauf ist nun immer der Selbe, die Inhalte werden klarer und mein Hirn braucht weniger Energie, um dem indischen Englisch zu folgen. Langsam wird auch die Umgebung um unser Apartment etwas klarer und ersichtlicher, ich weiss ungefähr, was ich wo finde und wo ich besser nicht hin gehe.

Der Wecker klingelt, wie jeden Tag, um 5, und wie jeden Tag drücke ich zwei mal auf Snooze und drehe mich noch einmal um. Die Asana Class beginnt um 6 Uhr, Mittwochs ist Mysore Style, das bedeutet, der Lehrer ist zwar da, aber jeder Schüler übt alleine im eigenen Tempo das eigene Programm. Etwa 20 Schüler üben und atmen, drehen, wenden und biegen sich. Es ist eine andächtige Stille in der Shala, und bis auf die Korrekturen des Lehrers und den Atemgeräuschen ist nichts zu hören.

Eines der obersten Gebote der Yogis ist die Gewaltfreiheit, damit ist auch die Gewalt gemeint, die laute Geräusche auf die Mitmenschen ausüben könnte, und so ist das oberste Gebot in der Shala die Ruhe. Meine Mit-Yogalehrerin und ich kommunizieren, wenn überhaupt, durch Blicke und Gesten, nur in ganz seltenen Ausnahmen flüstern wir uns hastig einige Worte zu und huschen danach sofort wieder auf unsere Matte.

Das ist das zweite „Gesetz“ in der Shala für die Schüler: „Bleibe stets auf deiner eigenen Matte.“ Selbst, wenn ich aus Versehen mal mit einem Finger oder den Füssen von der Matte rutsche, werde ich vom Lehrer darauf hingewiesen, wieder auf meine Matte zurück zu kehren.

Ebenfalls wird jedem Schüler nahegelegt, die eigene Matte mitzubringen. Dies hat den Sinn, dass jeder seine eigene Energie auf sein Besitz übergehen lässt, und wenn ein anderer auf der Matte steht, dessen Energie vielleicht nicht ganz so gut ist, die gute eigene Energie stört, und somit auch die Gesundheit beeinflussen kann. Sowieso ist Energie etwas, was von allen Lehrern beobachtet wird. Als ich eines Tages nicht ganz so konzentriert bei der Pranayama-Sache bin (meine Füsse sind kalt, ich bin durchgeschwitzt und ich friere bei 25 Grad Aussentemperatur), spricht mich nach der Stunde meine Pranayama Lehrerin sofort darauf an, dass mein Energielevel sehr niedrig sei, ich solle diese-und-diese Atemübung zuhause machen.

Gewaltfreiheit gilt übrigens auch für unser Essen: Wir essen strickt vegetarisch, und werden angehalten, keine tierischen Erzeugnisse zu konsumieren, solange wir in der Shala sind. Die meisten hier sind ohnehin Vegetarier, nur einige sind Allesesser, und von denen ignorieren nur wenige diese Vorgabe. Der mehr rationale Hintergrund für die vegetarische Lebensweise ist die Tatsache, dass Fleisch wesentlich mehr Energie braucht, um verdaut zu werden, und diese Energie dann im Körper für das Wesentliche fehlt: Die Vereinigung von Körper Geist und Seele durch die Ausübung von Asanas, Pranayamas und Meditation.

Weitere Regeln in der Shala betreffen den Umgang mit dem Lehrer: Wir dürfen seine Sachen nicht benutzen, seine Matte nicht betreten, ihn unter keinen Umständen berühren.

Des Weiteren müssen wir die Schuhe vor dem Eingang ausziehen, immer fünf Minuten vor Beginn der Class anwesend sein (das ist für Inder am schwierigsten, kommen sie doch meist eher 5-30 Minuten zu spät zu Verabredungen), immer unsere gesamten Sachen dabei haben (Manual, Heft, Stift), wir dürfen in der Shala weder essen noch trinken (ja auch während der schweisstreibendsten Asana-Class wird nicht zwischendurch getrunken) und müssen die Shala spätestens fünf Minuten nach der Lektion verlassen (es sei denn, es folgt eine weitere Übungsstunde).

Ein sauberer Körper, Saubere Kleidung, eine reine Sprache und reine Gedanken sind weitere Vorgaben an uns. Da wir uns, vor Allem in der Adjustment Class, auch mal körperlich sehr Nahe kommen, erscheint dies auf den ersten Blick normal. Angesichts der Tatsache, dass die frisch gewaschenen Füsse spätestens beim ersten Schritt auf den staubigen Strassen wieder dunkel werden, und des Umstandes, dass wir unsere Kleider mit der Hand waschen müssen, ist es in der Praxis dann doch nicht so einfach.
Von innen sauber halten wir uns mit der vegetarischen Ernährung, und die reinen Gedanken sollten wir haben, da es manchmal unumgänglich ist, dass Mann und Frau einander korrigieren müssen, und dann sollten komische Gedanken auf keinen Fall aufkommen. Auch müssen wir jeden Mitschüler respektieren und unterstützen, selbst wenn uns jemand mal nicht ganz so sympathisch ist, da sollten „unreine“ Gedanken gar nicht erst stören. Die saubere Sprache bezieht sich darauf, dass Sprache machtvoll ist und sorgfältig ausgesucht werden sollte. Wir sollten nicht schlecht über andere sprechen, und nicht fluchen. Ich fluche leider immer noch manchmal und verwende ausserhalb der Shala keine so schönen Wörter wenn ich sauer bin. Aber ich gebe mir grösste Mühe, und es wird immerhin weniger. Ich versuche auch, statt etwas nicht ganz so positives, lieber gar nichts zu sagen, wenn es um Andere geht. Aber auch das gestaltet sich recht interessant, denn mein Mund redet manchmal schneller als mein Hirn denkt, und manchmal passieren Vorkommnisse, die ich erzählen möchte, die nunmal leider erfordern, über andere nicht ganz so positiv zu reden…ich übe…versprochen.

Während des Unterrichts müssen wir uns ausschliesslich und konsequent auf uns und unsere Übungen konzentrieren. Deshalb ist die Shala auch vollständig kahl. Keine Deko, keine Bilder, keine Stühle oder Hilfsmittel befinden sich im Raum. Nichts soll uns vom Wesentlichen ablenken. Was sich so einfach anhört, ist, zumindest zu Beginn, in der Praxis nicht so einfach: Zu verlockend ist es, mich mit den Mitschülern zu vergleichen. Oder ich weiss nicht, welche Asana als nächstes kommt und ich will rechts oder links spicken. Zu seltsam fühle ich mich zu Beginn beim Singen, und ich schau verstohlen auf die Anderen, um zu sehen, ob mich jemand beobachtet (was natürlich keiner tut, denn jeder singt mit geschlossenen Augen). Manchmal läuft jemand ins Büro und ich bemerke dies aus dem Augenwinkeln, folge unwillkürlich der Bewegung und ergattere sofort einen Rüffel vom Lehrer. Er hat meine Schwachstelle sehr schnell erkannt und beobachtet mich mit besonderer Aufmerksamkeit. Nach einer Woche fällt es mir leichter, mich nicht mehr ablenken zu lassen und ich schaffe es, mich dem Drang, mich allem, was sich in meiner Nähe bewegt, zuzuwenden, zu widersetzen. Diese kleinen Errungenschaften auf dem Weg zur richtigen Yogini machen mich Stolz, und halten meine Moral oben, auch, wenn ich an anderer Stelle manchmal völlig verzweifele (Stichwort Asanas).

Ein weiteres Yogi-Gebot ist das praktizieren von Karma-Yoga, das selbstlose Arbeiten für die Allgemeinheit. In der Shala bedeutet das das Putzen von Bad und Boden, das Aufräumen von Matten und Materialien, das Ordnen und Aufräumen Selbiger im Regal. Normalerweise, in einer grösseren Gruppe, hätte uns der Lehrer täglich zugeteilt, aber da wir eine sehr kleine Gruppe sind, scheint dies nicht stattzufinden. Ich fege also den Shalaboden, wenn ich sehe, dass es mal wieder nötig ist, und bin damit, glaube ich, alleine. Zumindest sehe ich nie andere fegen, was mir aber völlig egal ist. Ich wundere mich nur über diese Tatsache. Zudem laufe ich öfters draussen herum, und halte nach armen, obdachlosen, alten Menschen Ausschau, die ich dann zum Essen einlade. Die Armut ist in Indien sehr gross, und das Mitgefühl der Menschen hält sich manchmal erschreckend in Grenzen. Ich verstehe dies (wenn man den kulturellen und religiösen Hintergrund betrachtet), kann aber für mich diese Haltung nicht akzeptieren, und so kann es schon mal passieren, dass ich mit Geld für etwas Süsses auf die Strasse laufe, und statt etwas Süßes für mich, etwas zu Essen für einen alten Menschen kaufe. So versuche ich, täglich Karma Yoga zu praktizieren.

Dass genau diese armen, alten Menschen mich schon Bald in eine handfeste Krise stürzen, ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.