Ein Jahr später verbrachte ich zwei Monate bei Freunden meines Verlobten. Sie waren kinderlos, und wohnten in einem tollen Apartment mit einem Rooftop-Zimmer, den ich beziehen durfte. Vor meinem Zimmer war eine wunderschöne Terrasse, voller Blumen und Sträucher, mit Blick über die Dächer von Bangalore, auf dem ich oft meine Workouts machte, schrieb, arbeitete und frühstückte.

Mit der Frau des Hauses, Aarti, war ich von Anfang an auf einer Wellenlänge, sie war Hypnose Therapeutin und dieses Thema verband uns. Sie hat ihren Master in Yoga in den Himalaya gemacht, aber das war für mich erst einmal nebensächlich. Wenn sie davon erzählte, hörte ich mehr aus Höflichkeit denn aus Interesse zu. Die ersten drei Tage verbrachten wir damit, mich zu analysieren, denn sie wusste davon, dass ich krank war, und bot darum an, zu helfen. Für mich war ihr Ansatz interessant, und ich konnte ja nichts verlieren. Sie war Hypnotherapeutin, Graphotherapeutin und Yogalehrerin. Es war sehr interessant: Sie lies mich zB verschiedenen Szenen malen, verschiedene Texte schreiben, und analysierte diese. Es war sehr überraschend, was sie daraus lesen und ableiten konnte, wie ich die verschiedenen Buchstaben schrieb, den Stift an- oder absetzte oder wie ich Menschen nebeneinander malte: Ob der Körper auf ein mal, oder in Teilen gemalt wurde, ob ich die Kleider ausmalte oder nicht. Ich fand mich in allen ihren Analysen uneingeschränkt wieder. Am dritten Tag sagte sie mir, es sei nun soweit, wir könnten mit der “Heilung” beginnen.

Dafür gab es für mich eine morgendliche Routine:

Am frühen Morgen fuhren wir in den nächsten Park, um einen Workout zu machen, den ich für sie anleitete, danach kamen wir zurück, machten Schrift-Übungen, also eine Graphotherapie, während die Haushälterin kochte, danach frühstückten wir, und danach begann der Tag.

Nach zwei Wochen fiel unser Workout aus, da Aarti eine Blutabnahme hatte. Der Arzt kam zu uns nach Hause und die Resultate waren bereits am frühen Nachmittag auf ihrer App.

Das Ergebnis war, dass Aartis´ Schilddrüse eine Unterfunktion hatte. Als sie mir dies erzählte, war meine erste Reaktion natürlich aus meiner Erfahrung die Frage nach den Medikamenten, die sie nun nehmen sollte. Sie sah mich an uns sagte ruhig: „Nein, ich fange nun wieder an, Yoga am Morgen zu machen. Und du machst mit.“

Nun, ich wollte Aarti nicht verletzen, also sagte ich zu. Sie, und manchmal auch ihr Mann, stand gegen fünf Uhr morgens auf, kamen hoch auf die Terrasse, und begannen mit der Yoga Routine. Ich machte anfänglich einfach alles nach. Ich dachte natürlich, ich wisse was mich erwartete, aber dem war nicht so. Die Yoga Routine war wieder anders, als ich ihn vor einem Jahr in dem Club kennen lernte, und wieder anders, als ich es aus der Schweiz kannte.

Ausser dem Sonnengruss machten wir nur wenige Asanas. Und die, die wir machten, hatten den Sinn, Aartis Schilddrüsenunterfunktion zu heilen. Sie erklärte mir, dass jede Bewegung, richtig ausgeführt, die Energien im Körper anregte, verschiedene Drüsen unterstützte und somit zur Heilung beitrug. Ebenso verhält es sich mit den Atemübungen: Für viele Gebrechen gibt es einfach Atemübungen, die zur Heilung beitragen konnten. Ich respektierte ihre Überzeugung und machte mit, ohne wirklich daran zu glauben. Mein Verlobter war nicht sehr spirituell, und er pflegte unsere morgendliche Yoga-Sessions zu belächeln und zu verschlafen, was mich ein wenig ärgerte, denn insgeheim hoffte ich, er gäbe den Atem und Yogaübungen für einige seiner Symptome auch eine Chance, statt einfach täglich 11 Medikamente zu nehmen.

Anfangs machte ich wirklich nur aus Anstand mit, und ich weigerte mich stets, zu ohm-en. Aarti und auch ihr Mann erklärten mir immer wieder geduldig, wieso es wichtig ist, zu ohm-en, aber ich weigerte ich weiter. Ich erklärte ihnen immer wieder geduldig meine Bedenken, dass meine Stimme keine Schöne sei, und ich darum nicht singen wolle.

Bis nach einer Woche etwa, wir waren gerade mit den letzten Atem-Übungen fertig, Aarti mich anwies, sitzen zu bleiben. „Heute lernst du das richtige Chanten“ begann sie. „und wir bleiben hier, bis du es kannst.“. Ich kam aus der Nummer nicht mehr raus… Also ergab ich mich und hoffte, dass sie schnell zufrieden war. Dem war aber nicht so. Sie sang und summte mit mir eine Stunde, und am Ende sagte sie: „Das machen wir ab sofort jeden Tag zusätzlich. Bis du es kannst.“    

Ich muss dazu sagen, dass die morgendliche Schreib-Routine zur Heilung meiner Krankheit beibehalten wurde, und ich spürte tatsächlich, wie sich in mir etwas veränderte. Deshalb wollte ich Aarti nicht widersprechen, ich wusste, auch, wenn es sich für mich unsinnig anhörte: Sie wusste, was sie tat. Glücklich über das Singen war ich nicht, aber ich wollte auch dem OHM eine Chance geben.

Wir sangen also täglich als Abschluss der Yoga- Stunde, und tatsächlich veränderte sich mein Ohm. Es wurde von einem zögerlichen Rinnsal zu einem grossen, entschlossenen Strom, ein sogar in meinen Ohren satter, wohlklingender Ton, deren Vibrationen ich tief im Körper spüren konnte. Am liebsten hatte ich das „U“, es vibrierte im Herz und schien ein wohliges, beschütztes Gefühl in mir erzeugen zu können. Stunde um Stunde fühlte ich mich wohler mit dem Chanten, bis ich es ganz natürlich mit machte.

Ich merkte auch, wie ich mich von Tag zu Tag veränderte: Ich wurde wieder zielstrebiger, ich wurde bestimmter in dem, was ich tat. Ich lebte nicht mehr einfach vor mich hin und liess mich treiben, sondern nahm die Zügel meines Lebens wieder in die Hand und lenkte den Wagen wieder selbst. Meine Gedanken veränderten sich: Weg von dem, was war, hin zu dem was kommen sollte. Und ich war weniger wehmütig. Wo ich anfangs meiner Reise noch oft mit Tränen in den Augen daran dachte, was ich in der Schweiz zurück gelassen habe, konnte ich nun mit Dankbarkeit zurück denken und erkennen, dass alles seinen Sinn hatte – das Schöne, das Schmerzhafte, alle Begegnungen, alle Verluste, und auch meine Krankheit… alles hatte plötzlich einen Sinn. Den Sinn, aus mir den Menschen zu machen, der ich jetzt bin, Ich hätte ohne all dies meinem Verlobten nie zu einem neuen Leben verhelfen können, ich hätte all die wunderbaren Menschen nicht getroffen, ich hätte Aarti nie kennen gelernt und Yoga hätte mich nie gefunden. Ich fokussierte mich auf mein Ziel und selbst mein Verlobter merkte die Veränderung. Er war allerdings nicht sehr begeistert, denn er spürte, dass dies für „Uns“ der Anfang vom Ende war. 

Eines Tages, gegen Ende meiner Zeit mit Aarti, gingen wir für unsere Workouts in den Park. Es war ein riesiger, beliebter Park, der schon um fünf voller Leben war, vor dem Eingang verkauften Händler Gemüse, Obst, Säfte, meinen heiss geliebten südindischen Kaffee, sowie Idli, mein lieblings-Frühstück. Wir machten unsere Workouts, und Aarti wollte noch zumindest ihre Atemübungen machen. Wir setzten uns hierfür auf eine Bank, und gefühlt hunderte Inder strömten an uns vorbei. Aarti schaute mich an, und forderte mich heraus: „Traust du dich, hier zu chanten?“ Und zu meiner Überraschung nickte ich ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Ich nahm meine Position ein, holte Luft, wie ich es gelernt habe, schloss die Augen und tönte ein tiefes, sattes, langes AUM an. Ich war selbst am meisten davon überrascht, dass ich das ohne Angst, ohne Befangenheit, ohne Scheu, einfach selbstverständlich, sang. In mir machte sich solch eine Freunde breit, erfüllte jede Zelle in mir, ich war so Stolz, das kann ich gar nicht beschreiben. Am Liebsten hätte ich ewig mein Ohm gechantet, aber die Luft ging mir irgendwann natürlicherweise aus. Als ich die Augen öffnete schauten mich einige neugierige indische Augenpaare an, liefen dann aber weiter. Für sie war es höchstens interessant, eine weisse Frau zu sehen, aber nicht das Chanten. Aarti lächelte und sagte: „Gut. Du bist auf dem besten Weg, eine echte Yogini zu werden. Sehr gut.“

Und so begann Yoga in mir zu wachsen, und wächst immer noch tapfer weiter.

Yoga ist kein Sport – Yoga ist eine alles umfassende Lebenseinstellung. Yoga ist nicht definiert durch schlanke hübsche Körper, die die absurdesten Verrenkungen machen – Yoga ist, wenn du es schaffst, im Hier und Jetzt zu sein, und alles, was das Leben dir zuschiebt, anzunehmen.

Mir persönlich hilft es (meistens), fokussiert zu bleiben, und alle Ereignisse, Begegnungen, Gewinne, Verluste, Erfolge und Rückschläge etwas anders wahrzunehmen, als ich das vorher tat. Ich will damit nicht sagen, dass Verluste und Rückschläge einfacher hinzunehmen sind, aber ich kann inzwischen leichter loslassen, die Trauer um das (vermeintlich) Verlorene anders zulassen und (er-)tragen. Rückschläge entwerten nicht mehr zwingend meine Person, und wenn jemand mich nicht mag, dann ist das für mich keine ganz so grosse Katastrophe mehr, wie früher. Das heisst nicht, dass ich über Verluste nicht unendlich traurig bin, es heisst nur, dass ich mich versuche darauf zu fokussieren, wie schön es ist, dass der jeweilige Mensch in mein Leben getreten ist, dass ich die jeweilige Situation erleben durfte, wenn vielleicht auch nur kurz, und ich versuche zu verstehen, was ich lernen durfte. 

Natürlich klappt diese yogische Einstellung nicht immer, erst kürzlich verliess mich mal wieder ein Mensch nach ganz ganz kurzer Zeit, und es fiel mir wirklich sehr schwer, zu akzeptieren, dass diese Begegnung nicht für länger gedacht war. Aber ich ermahne mich, dankbar zu sein für die Begegnung und die  wenig Zeit, die ich mit ihm verbringen durfte. Früher hätte ich verzweifelt gekämpft, ich hätte nach dem Motto „die Hoffnung stirbt zuletzt“ gehandelt, und viel Energie verloren.

Heute vertraue ich darauf, dass alles kommt wie es kommen muss, und alles gut ist, wie es ist – auch, wenn ich es heute (vielleicht) noch nicht verstehe.